Gedanken zum Sonntag Kantate 2020 von Christoph Anders

Gedanken zum Sonntag Kantate 2020 von Christoph Anders

Gedanken zum Sonntag Kantate 2020 von Christoph Anders

# Kirchenjahr

Gedanken zum Sonntag Kantate 2020 von Christoph Anders

„Ich sing dir mein Lied“ - so beginnt das zweite Wochenlied des Sonntags Kantate. Es entführt mich in vergangene Zeiten und weit entfernte Orte. Seine Melodie kommt ursprünglich aus Brasilien, wo ich in den frühen 80er Jahren als Theologiestudent unterwegs war. Vor allem die allgegenwärtige Freude am Gesang hat mich fasziniert. Irgendjemand hatte immer eine Gitarre dabei und was immer Geräusche erzeugen konnte, wurde zum Rhythmusinstrument umfunktioniert. Allzeit bereit zum gemeinsamen Singen!

In jenen Monaten bin ich der brasilianischen Fassung des Liedes erstmalig begegnet, noch bevor es seine weltweite ökumenische Wanderschaft angetreten hat. „Cantai ao Senhor um cantico novo“ heißt es auf Portugiesisch, eine von mehreren Vertonungen des 98. Psalms. Dies kommt auch in der älteren deutschen Fassung zum Ausdruck: „Singt Gott unserm Herrn, singt ihm neue Lieder“ (Singt Jubilate, SJ 91).

Apropos neue Lieder: Seinerzeit sorgte - jedenfalls außerhalb der lutherischen Gemeinden - mein Hinweis stets für ungläubiges Erstaunen, dass die große Mehrzahl unserer Gesangbuchlieder aus vergangenen Jahrhunderten stammt. Denn dort entstanden neue Lieder fast im Wochenrhythmus, weil die gern Singenden oft auch mit Begeisterung komponierten und dichteten. Rasch wurden die Ergebnisse in kleinem Kreis ausprobiert, verändert, eingeübt und nach ersten Resonanzen andernorts in Gemeindeversammlungen und Gottesdienste eingebracht.

Oft waren es einfache Texte, lernbar durch Einüben, ohne Kopien oder Beamer, basierend auf biblischen Erzählungen und mit Bezügen zu den Lebenswirklichkeiten der Menschen. Nicht selten wurden dabei Rhythmen und Melodiefolgen aufgenommen, die auch außerhalb kirchlicher Kontexte bekannt waren.

Nur wenige Lieder des Standard-Repertoires der Gemeinden waren älter als ein paar Jahre. Meist verflüchtigten sich Infos über Ursprungsort und Verfasser. In SJ 91steht als Hinweis zur Melodie denn auch lediglich allgemein: „aus Brasilien“. Überraschend: Es findet sich diese fließend-eingängige Melodie auch noch in einer zweiten deutschen Fassung (SJ 110), die sich von der Textvorlage des Psalms deutlich entfernt. Dort steht „aus Brasilien vor 1990“, und im Regionalteil des Bayerischen Gesangbuches erfahren wir sogar: „brasilianische Volksweise“. Genauer ist die Herkunft wohl nicht zu fassen - warum auch…

Zugegeben: Diese Zeilen sind auch eine Flucht in andere Zeiten, von Nostalgie beflügelt. Saudade ist ein brasilianisches Schlüsselwort, oft besungen und kaum übersetzbar, Sehnsucht ist nah dran. Meine Sehnsucht richtet sich auf Zeiten ungebremster Sangesfreude, aus vollem Herzen. Durch den Tausch zweier Buchstaben des erwähnten Liedes lässt sich die eher triste Realität des diesjährigen Kantate-Sonntages beschreiben: „Ich sing dir mein Leid“. Nach Wochen des Gottesdienstverbotes soll nun der Gemeindegesang wegen Ansteckungsgefahr unterbleiben. Weit voneinander entfernt werden wir sitzen, nicht durch Gitter sehen wir uns an, aber durch Gesichtsmasken. Gemischte Gefühle ergreifen mich: Dankbare Vorfreude auf den ersten Gottesdienst und Sorge wegen der langen Liste der Auflagen. Sie werden die Erfahrung lebendiger gottesdienstlicher Gemeinschaft bis auf Weiteres schwerlich möglich sein lassen.  

Aber die Leiderfahrungen, die Millionen Menschen hier und weltweit aufgrund der Corona-Pandemie durchgemacht haben und weiter erfahren, verbieten es, das Gemeindegesangs-Verbot gleich zu stellen. Traurigkeit trifft es eher, und es hat eine lange und tröstliche Tradition, dass wir Gott durch Lieder auch unsere Nöte und Sorgen klagen dürfen.  

Am kommenden Sonntag werden wir in unseren Gottesdiensten kreativ mit dieser Lage umgehen: Bekannte Lieder neu erleben, vielleicht durch solistischen Gesang, der von der Gemeinde mitgesummt, mitgesprochen oder mitgebetet werden kann. Woanders erklingen instrumentale Fassungen. Vielleicht werden damit eindrückliche Erfahrungen verbunden sein. Der Gesang in den eigenen vier Wänden darf in jedem Fall erklingen: vor und nach dem Gottesdienst. Und es werden Zeiten kommen, wo wir unser Gotteslob wieder unmaskiert aus vollen Kehlen im gemeinsam gefeierten Gottesdienst anstimmen können: „Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön“!

Christoph Anders, Pfarrer der Kirchengemeinde Waidmannslust

Text als PDF zum Ausdrucken

(Foto: pixabay.com)

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