02/07/2024 0 Kommentare
Gedanken zum Reformationstag 2020 von Ute Sauerbrey
Gedanken zum Reformationstag 2020 von Ute Sauerbrey
# Kirchenjahr
Gedanken zum Reformationstag 2020 von Ute Sauerbrey
Die Lage war ernst in jenem Herbst des Jahres 20 - 1520, vor 500 Jahren also. Der Papst hatte Martin Luther den Bann angedroht - das bedeutete den Verlust aller seiner Rechte, inklusive des Rechts auf das nackte Leben. Wenn er seine Lehre nicht widerrufen würde, dann drohte ihm das Allerschlimmste. Der Tod auf dem Scheiterhaufen war eine wahrscheinliche Perspektive für den noch jungen Martin Luther - knapp 37 Jahre alt. Er sollte zurücknehmen, was er gesagt hatte. Das Wort wieder einfangen, das in der Welt war und schon Wirkung zeigte: Die Menschen horchten auf, sie schnupperten den neuen Wind.
Und dieses dramatische Jahr 20 - 1520 - wurde Luther produktivstes Jahr. Innerhalb weniger Monate entstanden seine wichtigsten Schriften, unter anderem diese: "Von der Freiheit eines Christenmenschen". Über die Freiheit schreibt der mit Gefängnis und Tod bedrohte Mann, dem man den Mund verbieten, die freie Rede verwehren will. In dieser Situation wird Freiheit zu Luthers Lebensthema. Er hat sich die Freiheit sogar in den Namen hineingeholt in jenem Herbst. Bis 1520 unterschrieb Luther mit dem Namen seines Vaters: Luder. Luther tauschte das weiche d im Namen gegen das griechische th aus - Luther, der freie Mensch, der Eleutherios, wie es im Griechischen heißt.
Nun ist das alles 500 Jahre her. Die Welt Luthers ist ziemlich weit weg. Wir sind doch so unglaublich viel freier als ein Mensch im zuende gehenden Mittelalter - oder? Uns engen die starren Grenzen der Stände nicht mehr ein. Unsere Konfession oder Religion bestimmt doch schon lang nicht mehr darüber, was wir lernen, wen wir heiraten, wo wir wohnen. Jeder kann alles werden, jedem steht alles offen - wirklich? Während ich das so aufzähle, kommen mir Zweifel. Gewiss, die Kluft zwischen Bauern und Rittern, Bürgern und Adeligen ist dahin. Aber ob meine Mutter Professorin oder Reinigungskraft ist, ob meine Eltern in Deutschland geboren sind oder nicht, ob ein Kind Emma oder Ayla, Kevin oder Johannes heißt - das bestimmt ein Menschenleben, das legt schon kleine Kinder fest auf eine Rolle, einen Lebensentwurf, eine Gehaltsklasse.
Luther schreibt im Angesicht von Unfreiheit und Todesbedrohung von Freiheit. Was hat er uns heute zu sagen? "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan." Mit diesem Satz atmet der bedrohte Luther auf: Alle Ängste und Sorgen werden klein vor Gewissheit, dass ich auf Gottes Güte vertrauen kann. Ich muss mir mein Lebensrecht nicht verdienen. Ich muss Gott nicht gnädig stimmen, um etwas zu gelten, geliebt zu werden.
Wer das tief verinnerlicht, der muss auch misstrauisch werden, wenn Menschen andere Menschen festlegen. Wenn vor Gott nicht gilt, welche Herkunft, welche Hautfarbe, welchen Namen, welche Verdienste ein Menschenkind hat - sollten wir dann nicht auch danach streben, Menschen nicht mehr damit festzulegen?
"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem Untertan", das ist der erste Satz. Und der zweite: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann Untertan."
Frei bin ich und dienstbar. Herr und Knecht. Frei dazu, mich meinem Nächsten zuzuwenden. Nicht, um mir Fleißpunkte im Himmel zu verdienen. Sondern: Weil Gott mich bedingungslos liebt, werde auch ich zur Liebenden, zum Liebenden. Von meiner Selbst-Sucht befreit bin ich frei dazu, das Glück des anderen zu suchen und dabei mich zu finden. Ich wünsche uns, dass wir zu so einer Freiheit finden.
In diesem November 2020 werden wir auf Freiheiten verzichten müssen. Wir werden viel zu Hause sein, vielleicht allein. Wir werden verzichten auf so viel, das uns lieb und teuer ist - weil wir die Schwächsten in unserer Gesellschaft schützen. Und wir können auch in der Beschränkung frei sein: In unserem Lieben. In unserem Glauben. In der Gewissheit, dass die Zeit von Fest und befreitem Singen und spontanen Umarmungen wieder kommen wird. Lasst uns gut aufpassen auf die innere Freiheit, die wir auch in der einsamen Wohnung haben können. Lasst uns phantasievoll und kreativ sein beim Bewahren von Nähe und Kontakt auch über den notwendigen Abstand hinweg. Frei und geliebt bei Gott. Dem Nächsten ein dienstbarer Knecht - aus Liebe.
Der Herbst 2020 ist gewiss ganz anders als der Herbst 1520, als Martin Luther seine Freiheit in Worte goss, die durch ganz Europa und bis in unsere Zeit hinein nicht zurückzuholen und nicht totzukriegen sind. Ich wünsche Ihnen, dass Sie gut durch diesen November kommen. Wir sind da, auch wenn wir nicht zusammen sein können. Und Gott ist nah, immer. Amen
Ihre Pfarrerin Ute Sauerbrey
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